Milchschaum und Säbelzahntiger
Dialog mit AndersdenkendenEs ist ein verregneter Montagnachmittag Ende Januar. Wie alle 14 Tage findet gleich die Dienstbesprechung statt. Noch vor ein paar Wochen hätten Sie sich darauf gefreut: auf den Austausch mit den Kolleg*innen, die Arbeit am Qualitätskonzept, den neuesten Klatsch aus den anderen Gruppen, auf Marthas selbst gebackenen Kuchen und auf einen Capuccino aus der neuen Kaffeemaschine, die sich das Team zu Weihnachten gegönnt hat. Und jetzt steht die Dienstbesprechung bevor, doch die Freude ist nicht wirklich groß. Und der Grund dafür ist der neue Kollege Martin.
Als Martin vor 4 Monaten angefangen hat, haben sich alle gefreut – Sie auch. Endlich waren alle Stellen im Team besetzt, die Dienstplanung wieder entspannter, keiner musste mehr einspringen. Und Martin übernimmt gerne auch mal Spätdienste, ist ein kreativer Kopf und bringt neue Ideen ein, von denen alle profitieren. Alle hatten den Eindruck, dass Martin auch persönlich gut reinpasst und er sich gerne auf die gemeinsame, inhaltliche Arbeit am Qualitätskonzept einlässt. Und er schätzt wie fast alle im Team einen guten Kaffee. Ein wirklicher Glücksgriff.
Und dann kam Weihnachten – und mit Weihnachten der neue, lang ersehnte Kaffee-Vollautomat in die Team-Küche. Alle waren happy und gingen beschwingt in die Weihnachtsferien. Kurz nach den Feiertagen, als der reguläre Kita-Betrieb in Fahrt kam, gab es aber die erste Irritation: Sie hatten gerade die Krippenkinder zum Mittagsschlaf gebracht und freuten sich auf eine kurze Pause mit frischem Cappuccino aus der neuen High-Tech-Maschine. Doch der Capu schmeckte nicht wie er soll. Ob jemand am Freitag nicht richtig gesäubert hatte?
Nein: Martin hatte Hafermilch eingefüllt. Martin war von Anfang an der Überzeugung, dass nur Hafermilch ökologisch vertretbar sei. Das ging so lange gut, wie jede*r seine eigene Milch im Kühlschrank hatte. Erst dachten alle im Team: das regelt sich schon. Tat es aber nicht. Martin blieb bei seiner Meinung. Wenn doch mal jemand im Frühdienst die bisher im Team genutzte Kuhmilch in den Kaffee-Automaten einfüllte, dauerte es keine fünf Minuten, bis Martin in der Tür stand und anfing zu diskutieren. Und er hat viele gute Argumente und ist sehr wortgewandt. Und hat einen langen Atem. Martha aber auch. Sie ist diejenige im Team, die leidenschaftlich gerne Kuchen backt und diesen mit dem Team gemeinsam genießt – bei einer Tasse Cappuccino. Und Martha weiss, was sie will (Nämlich frisch geschäumte Kuhmilch in ihren Cappuccino) und das hat auch Martin zu spüren bekommen: Lautstarke Diskussionen, ein Schlagabtausch nach dem anderen. Verbale Angriffe auch unterhalb der Gürtellinie füllten in den ersten Wochen des Jahres die Pausen. Noch heute können Martin und Martha nicht gleichzeitig im Raum sein, ohne dass der Kampf ums Rechthaben nach kurzer Zeit wieder losgeht.
Und nun ist es wieder so weit: Beim Gedanken an die bevorstehende Dienstbesprechung vergeht Ihnen jede Lust. – Vor allem auf Ihren geliebten Cappuccino – den trinken Sie inzwischen nur noch zu Hause. Klar fehlt Ihnen der Kaffee im Job, aber für die Diskussion mit Martin haben Sie keine Kraft und ausserdem würde das ja noch mehr auf die Stimmung in der Kita drücken und die ist ja ohnehin ziemlich angeschlagen. Also hören Sie sich Martins Vorträge an, warum Hafermilch unverzichtbar für die Zukunft unserer Kinder sei. Sie schlucken den Widerstand runter und versuchen zu lächeln. Das ist unangenehm und fühlt sich anstrengend an. Aber Sie sind eben nicht Martha und Harmonie ist Ihnen wichtig. Und einfach den Raum zu verlassen mit einem „Ach ne, da hab ich jetzt echt keine Lust drauf“, so wie andere Kollegen es tun, wenn die Milch- Diskussion wieder beginnt, das finden Sie unfreundlich.
Hoffentlich geht die Dienstbesprechung schnell rum, sodass Sie bald nach Hause kommen.
Schade ist es schon – Sie waren so ein tolles Team, wo alle gerne am Montag Morgen zur Arbeit gekommen sind. Vorbei die unbeschwerten Pläusche mit Marthas Kuchen und die lustigen Neckereien im Team, wenn alle sich auf den Weg in die Dienstbesprechung machen.
Aber was tun?
Egal ob unterschiedliche Sportvereine oder das Thema Impfen. Spätestens seit der Pandemie kennt jede*r von uns Menschen, die ganz anderer Meinung sind als wir selbst. Und manchmal
macht es vielleicht Spaß zu diskutieren und auf diese Weise in Kontakt zu kommen. Aber was, wenn uns das keinen Spaß macht? Was wenn wir gerne mit jemandem in Kontakt wären, auch wenn diese Person in manchen Dingen eine ganz andere Meinung hat? Wenn wir einerseits nicht Diskutieren und Überzeugen wollen, andererseits ein Abwenden aber nicht in Frage kommt, weil uns die Person sehr wichtig ist oder weil wir in einem Arbeitskontext immer wieder aufeinander treffen.
Jede*r von uns hat Themen, bei denen wir schneller „auf der Palme“ sind. Das sind Themen oder Punkte, bei denen ich selbst eine sehr klare Position vertrete und nur schwer eine andere Meinung zulassen kann. Genau an diesen Punkten, an denen ich nicht mit vollem Herzen sagen kann „Ach so, ja so kann man das also auch sehen. Wir haben halt unterschiedliche Sichtweisen – ist ok“, da kann es hilfreich sein, innerlich einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Was ist los in mir?
Und dafür hilft das bekannte Beispiel vom Säbelzahntiger. Wer in Not ist, sich beispielsweise durch hitziges Argumentieren, durch „An-die-Wand-diskutieren“ bedrängt fühlt, der hat drei Möglichkeiten:
• Kämpfen: So wie Martha: Indem sie versucht, die Argumente der Gegenseite zu widerlegen oder abzuwerten – möglicherweise auch durch eine bedrohliche Körpersprache oder verbale Angriffe auf die andere Person.
• Flüchten, wie die Kolleg*innen im Beispiel, die sich räumlich entfernen oder wegdrehen und damit das Gegenüber „im Regen stehen lassen“.
• Erstarren: Ähnlich der Person, die das Beispiel erzählt. Diese dritte Reaktionsmöglichkeit lässt sich von außen nur schwer erkennen. Die Erstarrung findet innerlich statt, während im Außen weiterhin versucht wird, möglichen Erwartungen zu entsprechen. Wer diesen Weg wählt, dem fehlt meist die innere Freiheit, die Situation zu verlassen und sich damit zu schützen.
Egal, wie wir dem „Säbelzahntiger“ begegnen, auf der Beziehungsebene zahlen wir einen hohen Preis: Der Kontakt zu Martin ist auch unabhängig von der Kaffeemaschine nicht mehr frei und unbeschwert. Weil die Kolleg*innen eines der drei Muster wählen, anstatt mit Martin authentisch ins Gespräch zu gehen.
Nur, wie gelingt es in einer so festgefahrenen Situation, wieder in einen guten, authentischen Kontakt zu gelangen? In Anlehnung an die Gewaltfreie Kommunikation hat sich folgendes Vorgehen bewährt:
Muster erkennen
Um auszusteigen und nicht in die lang erlernten Denk- und Verhaltensweisen zu verfallen, braucht es zunächst ein Bewusstsein für mein Muster.
Eigene Bedürfnisse wahrnehmen
Wenn ich weiss, was der Grund ist, warum ich in ein Muster falle, wenn ich merke, welches meiner Bedürfnisse gerade nicht erfüllt ist, kann ich eine alternative Strategie wählen und so besser für mich sorgen.
Bedürfnis des Gegenübers erforschen
Sobald gut für mich gesorgt ist und ich mich sicher fühle, kann ich versuchen herauszufinden, weshalb mein Gegenüber sich so verhält und die guten Gründe dafür erkunden.
Üben, Üben, Üben
Je häufiger ich es schaffe, in eine wirklich interessierte, neugierige innere Haltung zu gelangen und versuche herauszufinden, was mein Gegenüber wirklich bewegt und warum es sich so verhält, desto einfacher wird es mit der Zeit.
Gerade wenn wir die Früchte der Anstrengung ernten und merken, wie schön es sein kann, mit Menschen, die ganz anderer Meinung sind, wieder in einen Kontakt auf Augenhöhe zu kommen. Dies kann gelingen, wenn ich anerkennen kann, dass die Beweggründe meines Gegenübers genauso wertvoll sind, wie meine eigenen.
In unserem Beispiel könnte das wie folgt aussehen:
Die erzählende Person stellt fest, wie wichtig ihr ein gemeinsames Miteinander und Harmonie im Team sind, denn das gibt ihr ein Gefühl von Leichtigkeit und Freude an der Arbeit.
Im Gespräch mit Martha wird deutlich, dass sie mit ihrer Meinung gehört werden möchte. Das ist ihr besonders wichtig, da sie als Kind häufig übergangen wurde und darum kämpfen musste Gehör zu finden.
Andere Kolleg*innen möchten nach einem trubeligen Dienst einfach die Ruhe genießen und einen professionellen Austausch, um die Kita weiter voran zu bringen.
Und Martin? Nachdem die Kolleg*innen sich ihre eigenen Bedürfnisse bewusst gemacht haben, können sie mit Martin ins Gespräch gehen und sein Bedürfnis nach Respekt der Umwelt gegenüber hören. Nachdem sie gehört haben, wie wichtig für ihn ein Fortbestehen unserer wunderschönen Natur ist und dass dies für ihn eng mit einem bewussten Umgang mit unseren Ressourcen zusammenhängt, können sie ihm wieder offener begegnen.
„Wenn die Bedürfniss auf dem Tisch liegen, findet dich die Lösung.“ (Marshall Rosenberg)
Und die Lösung? Die ergibt sich meist von selbst, wenn alle Seiten genug gehört worden sind. Vielleicht einigt sich das Team darauf, die Tage abwechselnd Kuh- und Hafermilch in die Maschine zu füllen und nur noch Kuhmilch aus nachhaltiger Landwirtschaft zu kaufen. Vielleicht wird ein zweiter Milchschäumer angeschafft. Oder es wird beim Einkauf von Bastelmaterialien künftig darauf geachtet, dass diese nachhaltig produziert und transportiert wurden. Und vielleicht backt Martha ab und an veganen Kuchen und wer mag, trinkt dazu einen Cappuccino mit Kuhmilch … Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
Veröffentlicht im Fachmagazin der Pädiko-Akademie, Juni 2023