Kleine Schritte
*Mai 2022*
Ich sitze im Zug, auf der Heimfahrt vom International Intensive Training in Gewaltfreier Kommunikation (GfK) in Oberlethe – 10 Tage intensiver Austausch mit GfK-praktizierenden aus unterschiedlichen Ländern und mit verschiedenen Hintergründen. Im Gepäck habe ich viele Inspirationen, Anregungen und neue Ideen, gerade in Bezug auf meine Rolle im Social Change.
Während ich die vorbeifliegenden Felder und Wiesen in der Mittagssonne betrachte, denke ich an den Postkartenspruch aus meiner Jugend, den, mit den vielen kleinen Schritten die Menschen an vielen Orten tun und mit denen sie die Welt verändern können. Und spüre eine tiefe Wärme und Ruhe. In mir ist eine Hoffnung und eine neue Art von Bewusstsein, für das ich noch keine richtigen Worte habe.
Ich nehme einen Schluck von der Schorle, die ich mir noch schnell vor Abfahrt organisiert habe und spüre in die Wärme und das noch ungewohnte Gefühl in meiner Körpermitte rein. Mir ist nach Feiern zumute – als mir klar wird, dass ich bereits viele dieser kleinen Schritte, die die Welt verändern können, in meinem Leben integriert habe.
In der Zeit vor dem IIT haben mich Diskussionen rund um das Thema Social Change oft eher angestrengt – darüber zu sprechen, was sich in der Welt ändern müsste, was die Politiker anders machen sollten oder wie „man“ Menschen dazu bringen kann, weniger Müll zu produzieren oder vom Flugzeug auf die Bahn umzusteigen. Solche Gespräche habe ich häufig als frustrierend erlebt, mit einer inneren Ohnmacht verbunden und mich aus einem Wunsch nach Leichtigkeit daraus zurückgezogen.
Der Zug kommt auf der Strecke zum Stehen. Um mich herum viele fragende Gesichter, wann es weitergeht, was der Grund für den Halt ist. Ich lasse den Blick schweifen und erinnere mich an meine Zeit in Südamerika, in der man nie genau wusste, wann der nächste Bus fährt, ob er „pünktlich“ sein wird und wie all das für die Menschen gar kein Thema war. Ich spüre die Gelassenheit, im Umgang mit den Unwägbarkeiten des Lebens und vor allem in Bezug auf das Unterwegssein mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die ich von den dort lebenden Menschen für mein Leben in Europa mitgenommen habe. Ich habe viel gelernt in Südamerika: wie wenig das Empfinden von Glück und Zufriedenheit mit pünktlichen Zügen oder der Möglichkeit zu konsumieren zutun hat.
Als der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzt denke ich daran, wie ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland versucht habe, andere Menschen in meinem Umfeld davon zu überzeugen, wie viel reicher und wertvoller unser Leben sein könnte, wenn wir unsere Ressourcen teilen würden. Wie wertvoll es wäre, das Geld, nicht auf der Bank zu horten, sondern den Menschen zu geben, die es viel dringender brauchen. Und ich erinnere mich noch gut an die Ohnmacht, wenn mir geantwortet wurde: „Du hast leicht reden, du besitzt ja nichts, was du teilen könntest. Wenn du erstmal Geld hast, so wie wir, dann würdest du auch anders denken und handeln.“
Lange haben mich Zweifel begleitet, ob die Menschen recht haben, ob ich tatsächlich nicht in der inneren Freiheit bleiben und mein Geld teilen würde, sondern auch den Impuls hätte, es für später anzulegen.
Ich habe viel an mir und meinem Empfinden (anderes Wort?) gezweifelt und überlegt, ob ich wirklich auf mich und meine Werte-Orientierung vertrauen kann. Klar, wenn ich Weihnachtsgeld oder eine Sonderzahlung bekam, dann war es mir ein Leichtes, das Geld zu spenden oder an Menschen, die gerade dringend etwas benötigen weiterzugeben. Aber das waren keine hohen Summen. Und ja, ich habe kein Sparkonto sondern lebe sehr im Hier und Jetzt, mit einem großen Vertrauen, dass genug für alle da sein wird und auch für mich und meine Kinder, wenn wir es wirklich brauchen. Aber reicht das? Im Vergleich zu anderen Menschen sind die Summen, die ich weitergeben konnte „Peanuts“.
Während vor dem Fenster die Vororte von Hamburg vorbeisausen und die baldige Ankunft in meiner Lieblingsstadt angekündigt wird, denke ich: Die Antwort auf diese inneren Zweifel kam im vergangenen Jahr, mit dem plötzlichen Tod meines Vaters. Ich habe das Privileg bald unverhofft viel Geld zu erben. Und ich stelle (fast mit Erstaunen) fest, dass es mir tatsächlich leicht fällt, das Geld weiterzugeben.
Wenn ich ehrlich bin, ist da auch eine gewisse Genugtuung in mir: Nun kann ich endlich spüren, dass ich es ernst meine mit dem, wofür ich schon so lange versuche zu gehen: Mehr Gerechtigkeit und Ressourcenverteilung, weil in der Welt genug für alle da ist.
Die Ansammlung von Geld und Ressourcen liegt aus meiner Sicht nicht in der menschlichen Natur, sondern ist aus meiner Sicht nur eine von vielen Strategien für unser Sicherheitsbedürfnis. Und ich finde es lohnt sich, von dieser Strategie Abstand zu nehmen und zu schauen, wie wir auf anderem Wege den Wunsch nach Sicherheit in uns nähren können, um dann die vorhandenen Ressourcen gerechter zu verteilen und bewusst mit unseren Privilegien umzugehen.
Über meine Lautsprecher höre ich, wie die Band „Berlin Boom Orchestra“ singt: „… manche haben nichts und andere Privilegien, es macht den Unterschied, als wessen Kind du die Welt betritts, … die Verhältnisse in denen du privilegiert bist, sind ohne eigenen Machtverlust nicht ein Stück veränderlich, so lange wir große Reden schwingen doch nicht bei uns selbst anfangen, machen wir nichts ausser uns lächerlich.“
In meiner Hamburger Wohnung angekommen, lege ich nur kurz meinen Rucksack und meine Jacke ab, radel mit meinem Kind auf einem Geburtstag. Freunde aus einem südamerikanischen Land feiern im Stadtpark: Die Sonne scheint, die Luft ist voller Musik, es wird Fussball gespielt und gelacht. Die spanischsprachigen Kinder laufen auf mein Kind zu und in Nullkommanichts finden sie auch ohne viele Worte ein gemeinsames Spiel. Ich nehme mir ein Bier und setze mich zu alten Bekannten an den Grill: Wir sprechen über meine Reise und die Erkenntnisse, die mir gerade bewusst geworden sind: Über meine Privilegien als Mensch mit deutschem Paß und als Erbin. Und dass ich jeden Tag, jeden Moment die Wahl habe, meine Privilegien transparent zu machen und meine Ressourcen gerechter zu verteilen.
Wir leben in der gleichen Stadt und führen doch so unterschiedliche Leben: ich habe einen deutschen Paß, mein Gegenüber darf sich laut Gesetz nicht in Deutschland aufhalten. Ich kann ohne Angst vor Kontrollen U-Bahn fahren, über den Hamburger Hauptbahnhof laufen und wann immer es notwendig ist zum Arzt gehen. Mein Gegenüber kann das nicht und wird wahrscheinlich niemals im Leben die Option haben, eine Ausbildung absolvieren zu dürfen und in diesem Land offiziell leben zu können.
Wir kennen uns schon lange: Früher bin ich oft an diesen Ungerechtigkeiten, die zwischen uns stehen verzweifelt. Während ich meinen Blick über die fröhlichen Menschen um mich herum schweifen lasse und den bekannten Geschmack des südländischen Essens genieße, spüre ich eine tiefe Demut und Dankbarkeit. Demut vor dem Leben, das mit aufgrund meiner Privilegien möglich ist. Und Dankbarkeit, dass wir so offen über das, was unser Leben und unsere physische und emotionale Sicherheit trennt, sprechen können. Die Ohnmacht ist weg.
Als es für mein Kind Zeit zum Insbett-gehen wird und wir uns in einem Sprachmischmasch von deutsch und spanisch von allen, die noch länger bleiben, verabschieden, kehre ich ganz genährt und inspiriert nach Hause zurück.
Die Ohnmacht ist einer Zuversicht und Leichtigkeit gewichen. Da ist jetzt die Gewissheit, dass ich mir das, was schon sehr lange in mir lebt, nicht eingebildet habe. Ich stimme überein mit dem, was das Berlin Boom Orchestra singt: Dass sich in dieser Welt nur etwas ändern kann, wenn wir aus einer inneren Fülle heraus unsere Ressourcen und unseren Einfluss teilen. Und dafür brauche ich keine großen Reden schwingen oder Debattieren, sondern kann jeden Tag wieder bei mir selbst schauen un einen weiteren der vielen kleinen Schritte tun.
Artikel veröffentlicht: Empathische Zeit 3/2022
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